Wie kann es heute aussehen, das „Wohl der Stadt“ im Blick zu haben?
Die Stadt spielt in der Bibel eine wichtige Rolle. Rainer Dietrich hat eine verantwortungsvolle Aufgabe in einer Kommune mit fast 53 000 Einwohnern inne. Doch ihm ist nicht nur aus beruflichen Gründen das Wohlergehen der Menschen in der Stadt wichtig.
Du bist aus der freien Wirtschaft auf ein Rathaus einer mittelhessischen Industriestadt gewechselt – in eine Dienstleistungsaufgabe für Menschen. Was hat dich an der Aufgabe gereizt?
Nach langen Jahren in einem heimischen Großbetrieb im Bereich internationales Produkt-Marketing war ich 1999 zu einem mittelständigen Familienbetrieb gewechselt, was sich schon nach kurzer Zeit als Fehler herausstellte. Ein Jahr später ergab sich dann die Möglichkeit, die Leitung der Wirtschaftsförderung der Stadt Wetzlar und dann zusätzlich die Geschäftsführung des Stadt-Marketing Wetzlar zu übernehmen.
Ich war schon immer ein Mensch, der an politischen Prozessen, insbesondere auch auf kommunaler Ebene und Stadtentwicklung interessiert war. Meine heutige Aufgabe gibt mir die Möglichkeit, dieses Interesse zum einen auszuleben, aktiv an der Stadtentwicklung zu arbeiten und zum anderen im Marketing-Mix die Marke Wetzlar zu positionieren und zu entwickeln.
Unsere große Nachbarstadt beeindruckt durch ihre Sozialprojekte in ihrer Fußgängerzone wie Cafés von Arbeitsloseninitiativen oder Diakonie. Du selbst hast dich in der Gemeinde bei einem Kochprojekt für Bedürftige eingesetzt. Warum ist dir der soziale Gedanke so wichtig?
Auf der kommunalen Ebene ist es meinem Team und mir grundsätzlich wichtig zu versuchen, alle gesellschaftlichen Schichten in unsere Arbeit zu integrieren. Gerade in den jetzt schwierigen Zeiten wird deutlich, dass die gesellschaftliche Schere immer weiter auseinandergeht und es großer Anstrengungen bedarf, um den gesellschaftlichen Grundkonsens beizubehalten. Hier bin ich durch meine Möglichkeiten gesegnet, mich auch um die Menschen zu kümmern, denen es nicht wirklich gut geht, die am Rand der Gesellschaft stehen.
Ich nutze daher gerne verschiedenste Themen und Projekte, um mich einzubringen; meinen Glauben an Jesus und die daraus resultierenden Grundsätze in mein tägliches Handeln zu integrieren. Kümmern um die Schwachen der Gesellschaft ist für mich ein Prinzip, dem wir in der Bibel immer wieder begegnen.
Die perfekte Stadt werden wir erst im Himmel finden. Aber interessanterweise fordert Gott in der in der Bibel Menschen auf, die gegen ihren Willen von Israel nach Babylon verschleppt wurden, der Stadt Bestes zu suchen. Wie ist aus deiner beruflichen und persönlichen Perspektive dieser Vers heute zu verstehen?
„Baut Häuser und richtet euch dort zum Wohnen ein. Legt Äcker und Gärten an und freut euch an den Früchten, die ihr erntet. Setzt euch ein für den Frieden und das Wohlergehen Babels, wohin ich euch als Verbannte geschickt habe…“, (siehe Jeremia 29 4-7).
Städte sind lebende Gebilde, die sich täglich entwickeln und verändern. Es gibt unterschiedlichste Bedürfnisse, Interessen und Vorstellungen. Mein Grundsatz in meiner täglichen Arbeit ist, dass ich „meiner Stadt“, meiner Heimat, versuche etwas von dem zurückzugeben, was ich erhalten habe und ihr diene. Ganz so wie oben beschrieben. Außerdem kann dieser Bibelvers gerade in der jetzt schwierigen Zeit für uns Leitbild sein. Unterstützen wir die sozialen Einrichtungen vor Ort, kaufen wir auch jetzt im stationären Einzelhandel, nutzen wir die Möglichkeiten, die Gastronomie zu unterstützen und freuen uns auf ein reichhaltiges gesellschaftliches Leben.
Wir alle haben bei vielen Städten, wenn wir ihre Namen hören, sofort ein bestimmtes Bild vor Augen und verbinden dies mit einer Bewertung, positiv oder negativ, sympathisch oder unsympathisch. Das „Gesicht“ einer Stadt ist ihr Aushängeschild, ihre Visitenkarte. Daher ist es im Sinne des allgemeinen Wertebildes einer „europäischen Stadt“ sehr wichtig, wie sie sich nach außen darstellt. Dies geschieht einmal durch die Präsentation der Gebäude, der Aufenthaltsqualität, aber primär auch durch die Freundlichkeit der Bürger und ihr Engagement, einen Beitrag zu leisten, dass sich Mitbewohner und Besucher wohlfühlen.
In einem Brief fordert Paulus die Christen in Rom auf: „Jeder soll sich den Behörden und den Amtsträgern des Staates unterordnen“, (Römer 13,1, Hoffnung für alle). Was heißt das für dich?
Geschichtlich betrachtet erleben wir in unserem Land, in ganz Europa seit 70 Jahren eine ganz besondere Zeit. Frei von Kriegen, in Demokratien mit sehr viel persönlicher Freiheit.
Wir haben die Möglichkeit, unsere Regierungen frei zu bestimmen und unsere persönliche und religiöse Freiheit zu leben. Das sind für mich sehr hohe Güter, die wir nur behalten, wenn wir uns gemeinschaftlich für unsere gesellschaftliche Grundordnung einsetzen und diese bewahren.
Durch die Pandemie erleben wir gerade eine Ausnahmesituation, die wir alle nicht kennen, die uns Angst macht. Wir nehmen wahr, dass unsere Regierungen durch die Herausforderungen der Pandemie zuweilen an ihre Grenzen stoßen, nicht immer wissen, wie sie optimal handeln sollen und auch manchmal falsche Entscheidungen treffen. Sie tun dies aber aus meiner Sicht besten Wissens und Glaubens. Ich sehe daher unsere Verantwortung als Bürger derzeit darin, dass wir zusammenstehen, alles unternehmen, um die Pandemie zu besiegen und dabei unseren gesellschaftlichen Konsens zu behalten. Auch wir als Christen sollten unseren Staat und seine Behörden unterstützen, helfen, egal an welcher Stelle wir stehen; und keine Verschwörungstheorien unterstützen.
Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass uns diese Pandemie Demut und Gottesfürchtigkeit lehrt und wir in naher Zukunft wieder miteinander Gemeinschaft haben, Gottesdienste feiern und soziale Kontakte pflegen können. Die Pandemie zeigt uns, dass nicht wir unser Leben in der Hand haben, sondern dass unser Leben in Gottes Hand liegt.
Bild: Fred König